Sturzprävention und Sturzprophylaxe (nicht nur) im Alter
19. März 2022
Stürze bei älteren Leuten sind ein häufiges und oft verheerendes Problem. Nicht selten gehen sie einher mit ernsthaften Verletzungen, welche zu langzeitigen Schmerzen, funktionellen Einbussen und zu einer Abnahme der Lebensqualität führen. Doch was sind die Risikofaktoren? Und lässt sich die Sturzgefahr durch Sturzprävention / Sturzprophylaxe und gezieltes Training beeinflussen? Viele Autoren und Studien befassen sich weltweit mit diesem weitverbreiteten Thema. In Deutschland gibt es die Bundesinitiative Sturzprävention (BIS), ein Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen und Expert*innen aus dem Bereich der Sturzprävention, welche sich mit diesem Thema befasst und Empfehlungen erarbeitet und erst kürzlich ein aktualisiertes Empfehlungspapier publiziert hat [1]. In diesem Blog bearbeiteten und beziehen wir uns zu einem grossen Teil auf diese interessante Publikation. Wir bedanken uns für diese Arbeit und die Erlaubnis zu derer Benützung (Lizenzhinweis).
Stürze und ihre Folgen
Unbeabsichtigte Verletzungen sind die fünfthäufigste Todesursache bei älteren Erwachsenen (nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Schlaganfall und Lungenerkrankungen), und Stürze machen zwei Drittel dieser Todesfälle aus. In den USA entfallen etwa drei Viertel der sturzbedingten Todesfälle auf die 13 % der Bevölkerung im Alter ≥65 Jahre, was auf ein primär geriatrisches Problem hinweist. Etwa 40 % dieser Altersgruppe, die zu Hause leben, stürzen mindestens einmal pro Jahr, und etwa einer von 40 von ihnen wird ins Krankenhaus eingeliefert. Von denjenigen, die nach einem Sturz ins Krankenhaus eingeliefert werden, ist nur etwa die Hälfte ein Jahr später noch am Leben. Wiederholte Stürze bei einer Instabilität und Gangunsicherheiten sind sehr häufige Auslöser für die Aufnahme in ein Pflegeheim [2]. In vielen Fällen ist das Leben nach einem Sturz nicht mehr dasselbe wie zuvor [1]. Nebst dem gesteigerten Verletzungsrisiko und der erhöhten Sterblichkeitsrate verursachen solche Stürze auch enorme ökonomische Kosten [3].
Risiken
Die meisten Stürze werden durch Risikofaktoren wie Schwäche / Kraftverlust, Abnahme der Ausdauer und Kondition, unstetiges Gangbild, orthostatischer Schwindel, Verwirrtheit und bestimmte Medikation begünstigt. Hinzu kommt, dass mit zunehmendem Alter die Beweglichkeit der Gelenke abnimmt (z.B durch Arthrose, gerade der unteren Extremität, welche einen grossen Einfluss auf potentielle Stürze haben). Dadurch wird das Gangbild steifer, weniger kontrolliert und somit auch gefährlicher. Durch die Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit im Alter nehmen auch die posturalen Reflexe und somit die Körperkontrolle bei älteren Menschen ab. Die Muskelkraft ist reduziert und die Schritthöhe vermindert. Auch die räumliche Orientierung lässt nach. Durch alle diese Einflüsse kann bei einem Stolpern und Sturz nicht mehr gleich effizient reagiert werden. Häufig führen jedoch auch Stolperfallen und umweltbedingte Auslöser wie freiliegende Kabel, ausgefranste Teppiche oder instabile Möbel zu Stürzen. Das Problem mit den Stürzen in der älteren Bevölkerung ist eindeutig nicht nur das hohe Vorkommen, denn auch junge Kinder und Sportler haben eine hohe Sturzhäufigkeit. Vielmehr handelt es sich um eine Kombination aus dem hohen Vorkommen zusammen mit einer hohen Verletzungsanfälligkeit aufgrund einer Kombination aus verschiedenen klinischen Erkrankungen (z. B. Osteoporose) und altersbedingten physiologischen Veränderungen (z. B. Polymyelitis und verlangsamte Schutzreflexe). Diese Voraussetzungen machen selbst einen leichten Sturz schon besonders gefährlich und es kann zu gravierenden Verletzungen kommen. Hinzu kommt, dass die Erholung von einer Sturzverletzung bei älteren Menschen oft verzögert und vermindert ist, was wiederum das Risiko für weitere Stürze durch eine Dekonditionierung erhöht. Eine weitere Komplikation ist das Angstsyndrom nach einem Sturz, bei dem ein Individuum aus einer vielleicht übervorsichtigen Angst vor einem Sturz seine Aktivitätvermindert. Dies trägt dann wiederum zu weiterer Dekonditionierung, Schwäche und Abnahme der Kraft und abnormalem Gang bei und kann auf lange Sicht das Sturzrisiko weiter markant erhöhen [2].
Die Sturzprävention
Inzwischen gibt es zahlreiche Belege dafür, dass die wirksamsten (und kosteneffektivsten) Programme zur Sturzreduzierung mehrere Faktoren enthalten und individuell gestaltet werden sollten. Im Voraus sollten die offensichtlichen medizinischen Faktoren wie Herzkreislaufbeschwerden, Blutarmut oder falsche Medikation wenn möglich durch ärztliche Abklärung behoben werden. Für Patienten mit Gang- und Balancestörungen kann eine Hilfsmittelanpassung (z.B. mittels Gehstöcke, Rollatoren und Schuhwerkanpassungen) hilfreich sein. Da äussere Umwelteinflüsse eine grosse Rolle bei Stürzen im Alter spielen sollte durch eine Umgebungsinspektion eine Gefahrenreduzierung erfolgen. Risikofaktoren und Stolperfallen im Haushalt wie ausgefranste Teppiche, freiliegende Kabel oder instabile Möbel erkannt und behoben werden. Hilfsmittel wie Haltestangen und Anti-Rutsch Einlagen im Bad oder allfällige Toilettensitzerhöhungen sind ratsam, um das Sturzrisiko zu senken [2]. Unterstützende manual-therapeutische Interventionen zur Wiederherstellung oder Verbesserung der Beweglichkeit durch Physiotherapeuten oder Osteopathen können sinnvoll sein. Auch können dadurch allfällige körperliche Beschwerden beeinflusst und vermindert und die Freude an Bewegung gesteigert werden. Wichtig ist aber auch ein selbständiges, langanhaltendes Eigentraining zur Verbesserung der körperlichen Fähigkeiten und damit zu einer optimalen Sturzprävention.
Das optimale Training
Damit ein Präventionsprogramm möglichst effektiv ist, sollte es erst systematische Tests zur Beurteilung des Sturzrisikos und danach gezielte Interventionen mit Bewegungs- und Trainingprogrammen beinhalten [1]. Guralnik et al [4, 5] entwickelten die Short Physical Performance Battery (SPPB), eine klinische Testbatterie, welche die wichtigsten motorischen Fähigkeiten wie Kraft, Gleichgewicht und Ganggeschwindigkeit abdeckt und im internationalem Raum weitverbreitet ist [1]. Aber auch der Modified Timed Up-and-Go (TUG) [6] ist ein sehr guter Screeningtest zur Erfassung der funktionalen Mobilität und des Sturzrisikos [1].
Trainingsinhalte und Trainingsempfehlungen
Effektive Trainingsprogramme sollten aus mehreren Komponenten bestehen. Es sollte funktionelle Kraft- und Gleichgewichtsübungen wie auch Koordinationsübungen beinhalten und diese kombinieren [1]. Dies zeigen aktuelle Metaanalysen und systematische Reviews [1, 7, 8, 9, 10,11]. Ein funktionelles Gleichgewichtstraining sollte sowohl statische Übungen mit einer Verkleinerung der Unterstützungsfläche (z.B. (Semi-)Tandemstand und Einbeinstand) wie auch dynamische und reaktive Übungen enthalten, in denen der Körper bewusst aus dem Gleichgewicht gebracht wird (z.B. Tandemgang und verschiedenen Arten von Körperdrehungen (=selbstinduzierte Perturbationen) [1, 12]. Des Weiteren sind Übungen, welche die an der posturalen Kontrolle beteiligten Muskelgruppen des Körpers beanspruchen, wie Fersen- und Zehenstand, sowie Mehrfachaufgaben [13] und Variationen in der Sensorik (z. B. Trainieren auf unebenem Untergrund oder mit geschlossenen Augen) anzustreben [1,14]. Der Schwierigkeitsgrad des Trainings sollte wie immer individuell an die Fähigkeit des Patienten angepasst und progressiv gesteigert werden [1, 12, 15, 16]. Auch die Thematisierung psychosozialer Aspekte; insbesondere der Sturzangst sollte aufgearbeitet werden, eine Hinführung zum Zusammenhang von Wohlbefinden und körperlicher Aktivität sowie die Berücksichtigung individueller Motive und Barrieren und kognitiver Aspekte ist sinnvoll [1]. Zusätzlich zum Gleichgewichtstraining hilft funktionelles Krafttraining, damit selbständige Alltagsaktivitäten wie Treppensteigen und Haushaltsarbeiten so lange wie möglich ausgeführt werden können. Dabei sollten vor allem Übungen zur Steigerung der Kraft der unteren Extremität im Vordergrund stehen [1, 12, 17, 18]. Nach einer Aufbauphase sollte eine moderate bis hohe Intensität (60-80% des maximal möglichen Gewichtes) angestrebt werden [1]. Dies ermöglicht älteren Menschen ein selbständiges Leben in den eigenen vier Wänden. Krafttraining ist wichtig, scheint aber alleine für eine Abnahme des Sturzrisikos alleine nicht zu reichen [1]. Auch sollte die Ausdauerleistung und Kondition erhalten und soweit möglich trainiert und verbessert werden. Idealerweise sollten ältere Personen mindestens zweimal pro Woche das Übungsprogramm ausführen. Auch sollten sturzgefährdete Personen ein lebensbegleitendes Trainingsprogramm ausführen, um Stürzen dauerhaft und langfristig entgegenzuwirken. Ansonsten besteht das Risiko, dass nach Abschluss des Trainings die gesteigerte Funktionsfähigkeit wieder nachlässt und das Sturzrisiko wieder ansteigt. [1]
Fazit
Zuerst werden also die individuellen Risikofaktoren bestimmt, damit anschliessend eine zielführende Therapie gestaltet werden kann. Danach wird in der Physiotherapie ein individuelles Gehtraining durchgeführt, wobei gezielt auf die jeweiligen Faktoren (wie Schwäche und Kraft, Gleichgewicht, artikuläre Einschränkungen, etc) eingegangen wird. Die neusten Studien zeigen, dass vor allem ein frühzeitiges, präventives Training zu einer Reduktion des Sturzrisikos führt. Dieses sollte aus funktionellen Gleichgewicht- und Balanceübungen, Kraft- und Ausdauertraining bestehen. Es ist also die Kombination aus vielen einzelnen Interventionen, die ein wirksames Sturzpräventionsprogramm ausmacht. Und die Übungen sollten möglichst lange, ja lebensbegleitend durchgeführt werden um Stürzen langfristig und dauerhaft entgegenzuwirken [1]. Jedoch ist die medizinische Bewertung von Sturzrisiken und die Bereitstellung geeigneter Interventionen aufgrund der komplexen Natur von Stürzen bis heute eine Herausforderung [2].
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Osteopathie und Physiotherapie | Rehabilitation und Training
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Literaturhinweise
Aktualisierung des Empfehlungspapiers der Bundesinitiative Sturzprävention von 2009
Carl-Philipp Jansen, Michaela Gross, Franziska Kramer-Gmeiner, Ute Blessing, Clemens Becker, Michael Schwenk,corresponding, an die Bundesinitiative Sturzprävention
Z Gerontol Geriatr. 2021; 54(3): 229–239.
Published online 2021 Apr 7. German. doi: 10.1007/s00391-021-01876-w; Lizenzhinweis
[2] Falls in older people: Epidemiology, risk factors and strategies for prevention
L. Z. Rubenstein
Age Ageing, vol. 35, no. SUPPL.2, pp. 37–41, 2006.
F. El-Khoury, B. Cassou, M. A. Charles, and P. Dargent-Molina
BMJ, vol. 347, no. October, pp. 1–13, 2013.
[4] Lower-extremity function in persons over the age of 70 years as a predictor of subsequent disability
J.M. Guralnik, L. Ferrucci, E.M Simonsick, M.E. Salive, R.B. Wallace
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J.M. Guralnik, E.M. Simonsick, L. Ferrucci, R.J. Glynn, L.F. Berkman, D.G. Blazer, P.A. Scherr, R.B. Wallace
J Gerontol. 1994;49(2):M85–M94. doi: 10.1093/geronj/49.2.M85.
[6] The timed “Up & Go”: a test of basic functional mobility for frail elderly persons
D. Podsiadlo, S. Richardson
J Am Geriatr Soc. 1991;39(2):142–148. doi: 10.1111/j.1532-5415.1991.tb01616.x.
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[12] Exercise for preventing falls in older people living in the community
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C. Becker, U. Lindemann, P. Regelin, J. Winkler, A. Hammes
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N. Schott, B. Johnen, B. Holfelder
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WHO (2020b) Zugegriffen: 19. Mai 2020
Titelbildnachweis

DrTorstenHenning, D-W015 Warnung vor Absturzgefahr ty,
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